Antizipation der Konsequenzen einer Klage wegen „unentschuldbaren Verschuldens“ des
Arbeitgebers in Frankreich
Januar 2021, Roederer
Wenn ein Arbeitnehmer in Frankreich einen Arbeitsunfall erleidet, unabhängig davon, ob dieser zur Anerkennung einer Berufskrankheit führt oder nicht, kann er versuchen, seinen Arbeitgeber sowohl auf zivilrechtlicher Ebene (als juristische Person) als auch auf strafrechtlicher Ebene (als natürliche Person) in die Haftung zu nehmen. Hier erfahren Sie die Risiken sowie die Deckungsmöglichkeiten für den Arbeitgeber.
In den letzten Jahren haben derartige Klagen stark zugenommen. Unternehmen, die in Frankreich niedergelassen sind, sind deshalb dem Risiko einer Verurteilung ausgesetzt, die in Deutschland so nicht möglich ist.
Um die Zahlungsfähigkeit der französischen Niederlassung nicht zu gefährden, ist es daher zwingend notwendig, über einen französischen Versicherungsschutz zu verfügen, der eine angemessene Deckung für „unentschuldbares Verschulden des Arbeitgebers“ gewährleistet.
1. Haftungsklagen wegen „unentschuldbaren Verschuldens des Arbeitgebers“, in Frankreich heute weit verbreitet
Opfer von Arbeitsunfällen können ihren Arbeitgeber wegen „unentschuldbaren Verschuldens“ in die Haftung nehmen, wenn sie feststellen, dass ihr Arbeitgeber seinen Sicherheitspflichten nicht nachgekommen ist.
In den letzten Jahren haben sich die in diesem Bereich geltenden Gesetze und die dazu ergangene Rechtsprechung stark weiterentwickelt.
Seitdem der französische Kassationsgerichtshof den Rechtsbegriff „unentschuldbares Verschulden des Arbeitgebers“ im Jahr 2002 neu definiert hat, reicht ein einfacher Fehler bei den Sicherheitsmaßnahmen, die der Arbeitgeber gegenüber seinen Arbeitnehmern ergreift, aus, um ein „unentschuldbares Verschulden“ zu begründen.
So kann selbst ein minimaler Verstoß zu einer Verurteilung führen.
Nehmen wir ein Beispiel: Ein Arbeitnehmer, Maschinenführer, hat eine Panne mit seinem Fahrzeug und versucht, es bei laufendem Motor selbst zu reparieren, obwohl er laut den vom Arbeitgeber klar vorgegebenen Sicherheitsvorschriften nicht selbst hätte eingreifen dürfen und die Wartung hätte rufen müssen.
Die Richter stellten fest, dass die letzte Inspektion des Fahrzeuges nicht durchgeführt wurde. Wäre sie rechtzeitig erfolgt, hätte das Fahrzeug möglicherweise keine Panne erlitten. Demzufolge ist dem Arbeitgeber ein „unentschuldbares Verschulden“ anzulasten, obwohl der Arbeitnehmer die Sicherheitsvorschriften nicht beachtet hat.
Nunmehr liegt ein „unentschuldbares Verschulden“ vor, wenn ein Arbeitgeber seine Sicherheits- und Fürsorgepflichten gegenüber den Arbeitnehmern verletzt hat. Dies gilt insbesondere in Bezug auf Berufskrankheiten, die durch vom Unternehmen herstellte oder verwendete Produkte verursacht wurden, während der Arbeitgeber die Gefahr kannte oder hätte kennen müssen, die erforderlichen Schutzmaßnahmen aber nicht ergriffen hat.
Um nicht in die Haftung genommen zu werden, muss der Arbeitgeber nachweisen, dass er alle notwendigen Maßnahmen zum Schutz seiner Arbeitnehmer und zur Unfallverhütung getroffen hat.
Die Anzahl der in diesem Bereich eingeleiteten Verfahren ist seit 2002 stark angestiegen.
Dieser Trend wurde durch die Veröffentlichung der sogenannten „Macron-Verordnungen“ verstärkt, mit denen die Entschädigungen begrenzt worden sind, die Arbeitnehmern bei einer Kündigung ohne tatsächlichen und ernsthaften Grund zugesprochen werden können.
Sofern der Kündigungsgrund auf einen Unfall zurückzuführen ist, versuchen demnach Arbeitnehmer heute immer häufiger, den Arbeitgeber auf dieser Grundlage in Anspruch nehmen, um Ihre Entschädigungen zu erhöhen.
Es ist in Frankreich extrem einfach, dieses Verfahren einzuleiten: Ein einfacher Anruf bei der CPAM (französische gesetzliche Krankenkasse) genügt.
Dieses Verfahren kann ausgelöst werden, ohne dass der Unfall schwerwiegende Personenschäden verursacht haben muss.
Selbst ein geringfügiger Personenschaden, auch mit einer dauerhaften Teilinvalidität (Incapacité Permanente Partielle de travail – IPP) von 0 %, kann zu einer Entschädigung führen.
2. Entschädigungszahlungen, die dem Arbeitgeber bei Anerkennung eines „unentschuldbaren Verschuldens“ auferlegt werden können
Ab dem Zeitpunkt der Anerkennung eines „unentschuldbaren Verschuldens“ durch die Sozialgerichtsbarkeit entsteht ein Anspruch auf Schadensersatz.
Wenn die IPP (dauerhafte Teilinvalidität) bei mehr als 10% liegt, kann durch dieses Verfahren zunächst eine Erhöhung des durch die CPAM gezahlten Rentensatzes erreicht werden. Diese Erhöhung wird zuerst von der Sozialversicherung gezahlt und dann durch Regress gegen den Arbeitgeber von diesem zurückgefordert. Sie wird als Kapitalbetrag berechnet, d. h. sie ist in einer Summe zahlbar.
Darüber hinaus begründet die Anerkennung eines „unentschuldbaren Verschuldens“, unabhängig von der Schwere des vom Arbeitnehmer erlittenen Unfalls, einen Anspruch auf Entschädigung nach dem allgemeinen Recht. Dies gilt insbesondere für:
- Gesundheits- und Reisekosten im Zusammenhang mit der Behandlung
- Lohneinbußen während des Zeitraums der Arbeitsunfähigkeit
- vorrübergehende berufliche Beeinträchtigungen
- zukünftige Verdienstausfälle
- Inanspruchnahme einer Unterstützung im Alltag
- erlittene Schmerzen
- ästhetischer Schaden
- Beeinträchtigung der Lebensfreude
- sexuelle Beeinträchtigung
- vorrübergehende Funktionsbeeinträchtigung
- Wohnungsumbau
- Kauf eines geeigneten Fahrzeugs
Diese Schadensposten werden von einem medizinischen Gerichtssachverständigen bewertet und vom Gericht als Schadensersatzanspruch determiniert.
Auch hier werden die Zahlungen zunächst von der Sozialversicherung vorgestreckt, welche sie anschließend direkt beim Arbeitgeber zurückfordert.
Sollte das Opfer bei oder nach dem Unfall verstorben sein, so erfolgen die Schadensersatzzahlungen an seine Erben.
3. Das Risiko einer Haftungsklage gegen den Arbeitgeber (natürliche Person)
Die Anwälte der Opfer empfehlen oftmals, parallel zu einer Zivilklage gegen den Arbeitgeber als juristische Person auch ein Strafverfahren gegen den Arbeitgeber als natürliche Person (z.B. gegen das Leitungsorgan des Arbeitgebers) einzuleiten.
In der Tat kann die persönliche Haftung des Geschäftsleiters festgestellt werden, wenn er persönlich ein Verschulden begangen hat, das die Sicherheit der Arbeitnehmer gefährdet. Dies kann der Fall sein, wenn die Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften nicht eingehalten werden, wenn keine angemessene Schulung erfolgt usw.
Zur Einleitung des Strafverfahrens wird Anzeige erstattet. Dann wird eine polizeiliche Untersuchung durchgeführt. Der Arbeitgeber kann zu Geld- oder Gefängnisstrafen verurteilt werden.
4. Effiziente Deckung der Risiken bei „unentschuldbarem Verschulden“ des Arbeitgebers
Auf zivilrechtlicher Ebene empfehlen wir den Abschluss einer französischen Betriebshaftpflichtversicherung (responsabilité civile exploitation), welche die Risiken eines „unentschuldbares Verschulden“ des Arbeitgebers (faute inexcusable de l‘employeur) in der Regel zwischen 1,5 und 3 Millionen € pro Versicherungsjahr und je nach Tätigkeit des Versicherungsnehmers deckt.
Diese Versicherung deckt folgende Risiken:
- die Kosten für die Verteidigung im Rahmen des vom Arbeitnehmer eingeleiteten Verfahrens; der Versicherer führt den Prozess, so dass er eine Anwaltskanzlei seiner Wahl beauftragen kann;
- den erhöhten Rentensatz;
- die Schadenersatzansprüche nach allgemeinem Recht.
Folgende Risiken werden niemals gedeckt:
- Geld- oder Gefängnisstrafen;
- die Erhöhung des Beitragssatzes AT / MP (Arbeitsunfälle / Berufskrankheiten);
- vorsätzliches Verschulden.
Aus strafrechtlicher Sicht empfehlen wir darüber hinaus den Abschluss einer D&O-Versicherung für Führungskräfte, entweder vor Ort in Frankreich oder über einen Master-Vertrag, der einer internationalen Gruppe und ihren gesamten Tochtergesellschaften, einschließlich in Frankreich, Deckungsschutz gewährt.
Derartige Versicherungen gewähren dem Leitungsorgan (natürliche Person) Deckungsschutz für die Erstattung der mit dem Verfahren einhergehenden Kosten für die Verteidigung sowie für eventuelle Schadenersatzzahlungen, die ihm auferlegt werden, z.B. im Fall einer persönlichen Verurteilung wegen Verstoßes gegen eine Gesundheits- oder Sicherheitsvorschrift.
Es besteht jedoch kein Versicherungsschutz für Geld- oder Gefängnisstrafen.